Jean Gebser(1) geht von der Grundannahme aus, dass sich vier Bewusstseinsstrukturen nachweisen lassen, die den heutigen Menschen konstituieren und die in der Kulturgeschichte der Menschheit aufeinanderfolgend in Erscheinung traten. Er nennt die Bewusstseinsstrukturen die archaische, die magische, die mythische und die mentale Struktur. Keine dieser Strukturen ist besser oder höher als eine der anderen. Sie sind einfach grundlegend anders. Es geschehen sprunghafte, diskontinuierliche Wandlungen der Bewusstseinsstrukturen. Sobald eine Struktur sich destruktiv auszuwirken beginnt, gelangt eine andere Bewusstseinsstruktur zum Durchbruch, die keine kontinuierliche Fortführung der alten Struktur, sondern etwas vollkommen neues ist.
Jede Struktur entdeckt eine Dimension neu und ist mit einer bestimmten Sicht auf die Welt und einer spezifischen inneren Haltung verbunden, mit der wir die dazugehörige Wirklichkeit und unser Handeln in der Welt bestimmen.
In der Gegenwart befinden wir uns in einem Zeitalter der Wandlung. Diese Wandlung führt zum Durchbruch einer neuen Bewusstseinsstruktur: das integrale Bewusstsein(2) . Besonders an der neuen Bewusstseinsstruktur ist, dass alle vorhergehenden Bewusstseinsstrukturen gleichzeitig sichtbar werden. Dadurch wird der Ursprung (des Lebens) in der Gegenwart sichtbar. Deshalb nennt Gebser dieses Bewusstsein auch "diaphanes (durchscheinendes) Bewusstsein". Die integrale Bewusstseinsstruktur entdeckt die vierte Dimension: die Zeit. Damit werden die unterschiedlichen Zeitverständnisse der verschiedenen Bewusstseinsstrukturen bewusst und sichtbar, wie die Zeitlosigkeit, Naturzeit oder gemessene Uhrenzeit. Indem wir über die verschiedenen Zeitformen verfügen können, befreien wir uns von ihnen. "...Dies stellt uns in die Zeitfreiheit, in die bewusst realisierte und immer gegenwärtige Ursprungsnähe."
Gebser sieht in der integralen Bewusstseinsstruktur die Möglichkeit, nicht nur die Zeit bewusst zu überwinden sondern auch den Raum.„Es heißt keinesfalls, dass Raum und Zeit abgeschafft werden sollen, wohl aber, dass wir uns bis zu einem gewissen Grad von beiden zu befreien haben“, die sogenannte Raum-Zeit-Freiheit.
Dieses integrale Bewusstsein führt laut Gebser – im Gegensatz zu der in der westlichen Welt gerade vorherrschenden mentalen-rationalen Bewusstseinsstruktur und ihrer dualistischen Subjekt-Objekt-Spaltung – zu einem neuen Miteinander und zu einer bewussten Teilhabe des Einzelnen am Weltganzen.
(1) Jean Gebser (* 1905, t 1973) war Philosoph, Schriftsteller und Übersetzer. Als Vertreter der integralen Theorie strebte er danach, wissenschaftliche und spirituelle Erkenntnisse zu verbinden. In diesem Kontext gilt er als einer der ersten kulturwissenschaftlich orientierten Bewusstseinsforscher, die ein Strukturmodell der Bewusstseinsgeschichte des Menschen etabliert haben.
(2) Im nachfolgenden Text werden Auszüge verwendet aus Jean Gebser: Ursprung und Gegenwart, 2.Teil, 1986, Novalis
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