angebot – Pränatale psychologie

vortrag seelische trümmer

Die Nachkriegsgeneration im Schatten des Kriegstraumas

Mein besonderes Interesse gilt seit vielen Jahren dem Einfluss

psychotraumatischer Erfahrungen auf die seelische Entwicklung von Menschen, insbesondere auf die Beziehungs-und Bindungsentwicklung.

Seit vielen Jahren schon beschäftigte mich immer wieder die Thematik der transgenerationalen Weitergabe traumatischer Erfahrungen.

Können die folgenden Generationen Erfahrungen der vorherigen, positive wie auch Belastende „erben“? Ja, sie können. Schon im Alten Testament heißt es bei Echeziel: „Die Väter haben saure Trauben gegessen und den Kindern sind davon die Zähne stumpf geworden“- ein über 2000 Jahre altes Wissen über transgenerationale Weitergabe. Auch der kollektive Aspekt - die heute noch spürbaren Folgen für die, ich nenne es mal Gestimmtheit unserer Gesellschaft - ist für mich von Interesse. Wie leben wir in Deutschland mit den seelischen Trümmern unserer kollektiven Vergangenheit, mit unserem psychischen Erbe? Ich selber erlebe die Begegnung damit als einen sich fortsetzenden Prozess des emotionalen Aufwachens, als ein in der Tiefe langsames Realisieren.

 

Die in den 50er und 60er Jahren Geborenen, die heute 40-60-Jährigen, haben als Gemeinsamkeit, dass ihre Eltern den 2.Weltkrieg und den Nationalsozialismus als Kinder, als Jugendliche, als junge Erwachsene erlebten.

Die Eltern gehören jetzt der ältesten Generation unserer Gesellschaft an. 14, 8 Millionen heute in Deutschland lebende Menschen haben ihre Kindheit und Jugend während der Kriegsjahre des 2.Weltkrieges verbracht. Was tragen Menschen heute noch in sich von den seelischen Erschütterungen dieser Zeit? Wie wurden Erfahrungen verarbeitet oder auch nicht verarbeitet, wie wirkt die Vergangenheit ins Jetzt? „Unsere Eltern und Großeltern räumten die Trümmer der zerstörten Häuser mit den Händen weg – wir, die nächste Generation, sind mit dem Aufräumen der seelischen Trümmer beschäftigt“ sagt eine 52-jährige Frau. Können wir dieses Bemühen um Integration, um Transformation wahrnehmen und anerkennen?

 

Als Individuen haben wir eine Geschichte, unsere Familie hat eine Geschichte, die jeweilige Generation als Kollektiv hat eine Geschichte und auch die Geschichte der Nation möchte erkannt

werden. Als Menschen reagieren wir auf die im Laufe unseres Lebens gemachten Erfahrungen, sie prägen unser Denken, unser Fühlen, unser Handeln. Unsere Träume, unsere Ängste und unsere Hoffnungen werden davon mit bestimmt. Ein wesentlicher Grundgedanke der Tiefenpsychologie besagt: Vergangene Erfahrungen sind in uns gespeichert und dadurch lebendig. Sie bilden den psychischen Hintergrund, vor dem wir die Gegenwart erleben und gestalten, so wie ein Bühnenbild in einem Theater auf das Schauspiel selbst wirkt und ihm seine Färbung gibt. Dieses innere Bühnenbild braucht unser Interesse - nur damit können wir unser Fühlen, Denken und Handeln und das von anderen Menschen mit dem jeweiligen Erfahrungs- Hintergrund verbinden und verstehen.

Und auch seelisches Leid, seelische Verstörung, können auf diese Weise eine Einordnung finden.

Auch die Frage nach dem Hintergrund aus einer vielleicht ganz anderen, längst vergangenen Zeit  kann zu einem Verständnis beitragen. So erhält die Seele ihr Recht zu Sein – ein Recht, das in den Paradigmen des Nationalsozialismus gnadenlos aberkannt wurde. Die Soziologin Sigrid Chamberlain nennt dies „Die Verweigerung des Antlitz“. Die nationalsozialistische Ideologie war dabei in ihrem Grundsatz nicht etwa seelenlos, sie sprach vielmehr - z.T. über magisch anmutende Rituale - in den Menschen verschüttete Bereiche an: Suche nach Selbstwert, pervertiert zu narzißtischer Grandiosität, Suche nach Halt und Lebenssinn, kanalisiert in Aufopferung an Führer und Volk, Suche nach Gemeinschaft, für Propagandazwecke missbraucht und zum Teil bis heute vergiftet.

 

Seelisches Leben braucht einen Raum des Seins und des Ausdrucks, der während eines Krieges wahrscheinlich kaum zur Verfügung steht. Das betrifft nicht nur die Vergangenheit, sondern gilt auch für jeden aktuellen Krieg in dieser Welt.

 Ein Bericht des Pentagon z.B. teilt mit, dass die Suizidrate unter den im Irak stationierten US - Soldaten erstmals die Anzahl der gefallenen Soldaten übersteigt. In der Süddeutschen Zeitung wird in einem Artikel über Traumafolgestörungen bei Bundeswehrsoldaten ein 22-jähriger Soldat zu seinem Einsatz in Afghanistan zitiert. Nach einem Selbstmordattentat, bei dem Kameraden von ihm ums Leben kamen, habe er beschlossen, ab jetzt keinem Menschen mehr zu trauen, denn: „Anders kann man nicht durchs Leben kommen.“

Für diese heute eingesetzten Soldaten gibt es kaum Raum für Emotionen, keinen Raum für

Seele. Umso bemerkenswerter ist, dass dies ausgesprochen wird und dadurch ins öffentliche Bewusstsein gelangt - aus psychotherapeutischer Sicht ein kollektiver Heilungsschritt.

Nehmen wir das Wissen aus der Trauma - Forschung und die Erkenntnisse über Langzeitfolgen auch für die nächsten Generationen ernst, kann sich unser Bewusstsein und unser Menschenbild

weiter entwickeln.

 

In meinem Buch kommen in den 50-er und 60-er Jahren geborene Menschen zu Wort. Sie haben sich Gedanken zu ihrer Familiengeschichte bezüglich des 2. Weltkriegs und des Nationalsozialismus gemacht. Wir haben gemeinsam zum Teil fragmentarisches Wissen und Erfahrungen zusammengetragen, wir haben Annäherungen und Verstehen gesucht.

Ich möchte hier exemplarisch Auszüge aus 2 Interviews vorlesen.

 

Franka ist 1964 geboren und Gymnasial - Lehrerin für Politik und Geschichte. Einer ihrer Kernsätze lautet :

 „Der Krieg kostet den Soldaten 5 Jahre seines Lebens - aber kostet der Krieg nicht überhaupt das Leben?“

„Meine Eltern erzählten immer viel von der Kriegszeit, aber es gibt Tabus, da frage ich besser nicht nach. Mein Vater ist 1922 geboren, und er durchlief die ganze nationalsozialistische Erziehung. Mit 18 ging er als Soldat nach Russland. Meine Mutter erlebte den Krieg als Kind. als älteste war sie zuständig für das Besorgen von Lebensmitteln. Schon mit zehn Jahren fuhr sie allein mit der S-Bahn durch Berlin.

Oft erzählte sie vom Fliegeralarm, nachts mussten sie aus den Betten und saßen im Luftschutz - Keller. Bis heute kann sie keine Sirenen heulen hören. Es gab auch ein bis heute wirkendes Angstbild vor den Russen, eine diffuse Lebensbedrohung, verbunden mit der Furcht vor Soldaten und vor Männern überhaupt. So schwang bei uns früh ein negatives Männerbild mit, von Männern drohte Vergewaltigung.

 

Die Familie litt viel Hunger - darüber spricht sie oft. Für mich als Kind waren diese Erzählungen unheimlich und befremdlich, sie entstammten einer anderen Welt, ich wollte damit nichts zu tun haben. Oft hatte ich Schuldgefühle, und ich konnte doch nichts dafür!

 Ich nahm vieles von den Erfahrungen meiner Eltern in mich auf, die Familiengeschichte prägte mich sehr.

Im Kontakt mit meiner Mutter heute spüre ich immer noch ihre Verstörung. Es ist, als habe sie mit dem Krieg aufgehört zu leben - ein Teil von ihr hat aufgehört zu leben. Sie wehrt und wertet vieles ab, was mit der Gegenwart zu tun hat. Auch ich fühle mich dadurch abgelehnt, denn ich lebe jetzt und ich habe eine Zukunft. Sie aber bleibt in der Vergangenheit.

 

Mein Großvater verhielt sich sehr hart, ein Nazi wie ich ihn mir vorstelle. Noch heute habe ich das Gefühl, mich vor dem braunen Sumpf der Familie zusammenziehen zu müssen und als Jugendliche fühlte ich mich oft ohnmächtig - was sollte ich dazu sagen, was sollte ich machen? Ich konnte nur da sitzen und staunen oder verzweifeln. Oft fror ich innerlich. Leblosigkeit war während meiner Kindheit ein Grundgefühl, isoliert sein und einsam.

 

Vor längerer Zeit sah ich ein altes Foto von meinem Vater, aufgenommen kurz nach dem Krieg. Ich weinte fast, so sehr rührte mich dieses Bild. Es gibt einen Spruch in unserer Familie: „Der Krieg kostet den Soldaten fünf Jahre seines Lebens“. Es ist ein merkwürdiger Spruch, denn kostet der Krieg nicht überhaupt das Leben? Auf diesem Photo sieht er so aus, als habe es ihn das Leben gekostet.

 

 Meine Eltern sind beide sehr mitteilungsbedürftig. Wenn ältere Verwandte kommen, wird fast nur über den Krieg gesprochen. Ich erinnere mich an Konfirmationen, wo pausenlos Lieder aus Pommern und Ostpreußen gesungen wurden. Es gab darin einen familiären Zusammenhalt, vielleicht auch eine Schicksalsgemeinschaft.. Manchmal ringe ich um meine Abgrenzung. Und doch finde ich es enorm wichtig, meine Familiengeschichte zu verstehen. Manchmal kaufe ich mir Bücher über die Kriegs - Zeit. Ich bin in einem Literaturkreis und vor kurzem erzählte der Dozent, er sei aus Königsberg und als Kind „irgendwie noch weggekommen“. In solchen Momenten werde ich ganz wach, ich merke dann: Hinter jedem Menschen steht eine Geschichte.“

 

Der Kernsatz der 1958 geborenen Erzieherin Miriam lautet im Interview:

 

„Ich trage einen Schmerz, der meiner ist und doch nicht meiner“

 

„Meine 1929 geborene Mutter fing erst an zu erzählen, als ich Fragen stellte, mit Beginn meiner Pubertät. Ich wollte wissen, wie sie gelebt hatte in der Zeit. Sie hatte nie das werden können, was sie eigentlich wollte, Lehrerin. Am Tag der überstürzten Flucht im Winter 1944/45 aus Ostpreußen versuchte sie noch, zu ihren Eltern zu kommen, aber sie verpassten sich und trafen sich erst viel später wieder.

Schwer war für sie, alle ihre männlichen Freunde zu verlieren. „Wieso hast du erst so spät geheiratet, mich so spät bekommen?“ „Na ja, meine Freunde sind gefallen, die Jungen in meinem Alter mussten im letzten Kriegsjahr noch zum Militär, es ist kaum einer wieder gekommen.“

Sehr geprägt wurde sie von der ersten Zeit im Sauerland nach der Flucht. Noch Mitte der 60er Jahre sagte eine Nachbarin einmal vom Balkon aus zu einer anderen über unsere Familie: „Das ist ja alles Pack aus dem Osten“. Dieser Satz verfolgt meine Mutter bis heute, sie ist froh, dort nicht mehr zu wohnen.

 

Ich glaube, dass ihre Vergangenheit sehr auf unsere Beziehung gewirkt hat. Ein großes Thema in unserer Familie war: Bloß nicht auffallen, nichts Besonderes sein, nicht laut sein, immer schön bescheiden, sich am besten gar nicht rühren. Das lernte ich von Kind an. Und ich war der Sonnenschein meiner Mutter, das war auch eine Last. Sie war auf ihre Art sehr depressiv, obwohl sie immer kämpfte und weiter arbeitete - aber sie trug eben sehr viel Traurigkeit in sich. Ich war wichtig für sie und ich fühlte mich gefangen. Und ich fühlte mich schuldig, für die Verbrechen der Deutschen.

 

Erst mit 14 Jahren erfuhr ich: Ich gehöre bezüglich der Vergangenheit meiner Familie nicht nur zur Täterseite, ich gehöre auch zur Opferseite. Mein früh gestorbener Vater war Jude gewesen, er war Ingenieur und seine Firma schickte ihn in eine Niederlassung nach Sumatra.. Er überlebte dort in einem Internierungslager. Meine bei Kriegsbeginn 9 Jahre alte Tante wurde in einem katholischen Nonnen-Internat unter falschem Namen versteckt, meine Großeltern überlebten irgendwie in einer schwer zugänglichen Dienstboten - Wohnung in Berlin. Als Jugendliche in den 70er Jahren dachte ich manchmal: „Ich brauche mich nicht nur zu schämen für meine familiäre Vergangenheit.“ Es hat etwas Absurdes - das Verfolgungs- Leid der väterlichen Linie gab mir ein besseres Lebensgefühl als Deutsche.

Schon als Kind spürte ich vieles von der Last meiner Familie, ich trage sie richtig in mir. Sie sind kein Teil meiner ganz persönlichen Erfahrung, aber sie sind nicht weit weg von mir und ich konnte mich nicht davor schützen. Ich finde es auch nicht unbedingt schlecht, es ist ja meine Familie, aber oft denke ich: “Wie dicht das noch alles ist“. Oft fühle ich einen Schmerz in mir, der meiner ist und doch nicht meiner. Und auf der anderen Seite gibt es auch die Freude, das Leben kann so schön sein! Auch diese starken Gegensätze wurzeln in meiner Familien - Geschichte. Ich glaube, meine Generation ist da sehr nah dran. Wir hören nicht nur die Geschichten unserer Eltern, wir fühlen sie auch und wir haben sie immer gefühlt.“

 

45 Millionen Menschenleben kostete der 2. Weltkrieg weltweit, 6 Millionen jüdische Mitbürger wurden ermordet 1945 lagen weite Teile Europas in Trümmern, lag Deutschland in Trümmern.

Und wir hatten am Ende des 2. Weltkriegs ein in seelischen Trümmern liegendes Land. Die Humanität lag in Scherben durch die unfassbare Zerstörung der Nationalsozialistischen Täter und des Krieges.

 Durch die Täterschaft war das Leid der deutschen Bevölkerung einer Benennung und Verarbeitung nur schwer zugänglich. Ächtung und Verurteilung von außen sowie Schuldgefühle und Verleugnung von innen wirkten auch auf die nächste Generation. In der Nachkriegsgesellschaft kam es zu Prozessen kollektiver Verdrängung und Abspaltung des Erlebten, zu kollektiver Depression und zu aggressiven Aufladungen in deutschen Elternhäusern. Die Trauer jedoch, die gemeinsame Bewältigung der erlebten Schrecken und der erlebten Zerstörungskraft, fanden in der Nachkriegszeit kaum Raum. Nicht selten entstand Suchtverhalten als Abwehrversuch und als Suche nach Halt und Beruhigung mit all seinen destruktiven Folgen. Alkoholkonsum kann Erinnerungen an traumatische Erlebnisse abwehren und ist laut Prof. Sachsse dafür „eines der besten Medikamente“. Ein bis  heute sichtbares überbewertetes Konsumverhalten kann verstanden werden als Ausdruck eines emotionalen Hungers, der anders keine Antwort zu finden scheint.

 

Krieg ist ein sogenanntes man-made-disaster:  Ein von Menschenhand initiiertes Katastrophen-Szenario.

Es wirkt anders als traumatische Erfahrungen durch z.B. Naturgewalten oder Unfälle. Hier werden ebenfalls Bedrohung und Ohnmacht erlebt. die Menschen bleiben jedoch in innerer Gesamtheit beieinander. Der Tsunami im Winter 2004 in Sri Lanka z.B. weckte als ein Ausdruck davon eine vorher nie dagewesene globale Hilfsbereitschaft der Menschen-Welt- Gemeinschaft.

Ein man-made-disaster jedoch trennt Menschen voneinander. Es gibt Täter und Opfer, es gibt Sieger und Besiegte, es gibt Profitierende und Verlierer. Das Vertrauen in andere Menschen wird tiefgreifend erschüttert. Als soziale Wesen leben wir in Gemeinschaft mit anderen und beziehen daraus Sicherheit, Hoffnung und Lebenskraft. Dies gilt insbesondere für Kinder.

 

 Die 1963 geborene Kinderärztin Corinna berichtet:

 

Einmal erzählte meine Großmutter, daß nach dem Einmarsch der russischen Soldaten Frauen wie Freiwild behandelt wurden, viele wurden vergewaltigt. Sie galten als Feindesweib. Sie selbst hatte rote Haare und Sommersprossen, und da gibt es folgende Geschichte: Als klar war, dass Soldaten ins Haus kommen, flocht sie sich Zöpfe und legte sich mit ihren 4 Kindern ins Bett, zog sich die Decke bis zur Nasenspitze und sagte: „Unsere Mama ist nicht da “. Die Soldaten glaubten ihr und sie wurde verschont. Als Jugendliche waren diese Geschichten für mich unvorstellbar. Das sollten meine Großmutter und meine Mutter erlebt haben?“

 

Und der 1958 geborene Sebastian erzählt:

 

„Mein Großvater war bekennender Kommunist und wurde lange von der Gestapo gesucht und so schwebte jahrelang eine große Angst über der Familie. Meine Mutter hielt als Kind mit Wache. Und doch wurde er 1943 geschnappt, ein katholischer Priester aus dem Dorf verriet ihn. Meine Mutter war zu der Zeit 12 Jahre alt und die jahrelange Angst wurde plötzlich zur bitteren Wahrheit. Alle Kommunistenwaren in Konzentrationslagern inhaftiert. Ich weiß nicht, was er dort erlebt hat. Als Jugendlicher saß ich oft mit ihm zusammen. Heute würde ich sicher andere Fragen stellen, mehr was er erlebt und empfunden hat. Ein sicheres Zuhause zu haben war lange bei uns ein Familienthema, und ist es auch in mir immer noch.

Entspannung habe ich nicht gelernt. Ohne Tätigkeit zu sein war wie „Du bist nichts“. Es war für mich ein Schritt zu lernen, dass „nichts tun“ auch gut und gesund sein kann."

 

Der 1935 geborene Altersforscher Hartmut Radebold*, Professor für Klinische Psychologie, sagt: „Bagatellisieren, Abschwächen und bewußt Vergessen und Verdrängen lautete die Devise in den Nachkriegsjahren. Wie hätte man überleben sollen, wenn man sich ganz und gar Verzweiflung und Kummer hingegeben hätte? Das Land richtete sich in einer manchmal pathologischen Normalität ein.“

Die pathologische Normalität kostete jedoch ihren Preis. Standen auf der einen Seite Funktionieren und Durchhalten für das Weiterleben und den Wiederaufbau, so gab es auf der anderen Seite Betäubung, innere Leere und Ignorieren seelischer Bedürfnisse. Daraus resultierende depressive Grundstimmungen oder immer wieder aufflammende Aggression wirken bis heute. Nach einer Studie der Universität Leipzig über die seelischen Folgen des 2.Weltkriegs leiden jede fünfte Frau und jeder zehnte Mann der Befragten aus der Kriegskindergeneration an Angstattacken im Zusammenhang mit Kriegs -Erfahrungen. Zur Bewältigung der Schrecken und Zurücksetzungen, die die Kriegskinder erfuhren, würde man heute ein Heer von Kinderpsychologen und Beratungsstellen aufbieten.

Und da ist auch gut so. Geschieht heutzutage ein Unglück wie z.B. der Amoklauf des Schülers in Winnenden 2009, so erfolgen schnell psychologische Betreuungsangebote. In einigen Bundesländern gibt es bereits einen “Psychotherapeutischen Bereitschafts- dienst“ um eine Erstversorgung für akut traumatisierte Menschen sicher zu stellen. Dies sind gute Entwicklungen.

Von vielleicht noch größerer Bedeutung ist die Sensibilisierung unseres Bewußtseins für die seelische Zerstörungskraft von Gewalt und damit von Krieg bis in die nächsten Generationen hinein.

 

 

Einige Gedanken zum psychologischen Thema Bindung:

 

Bindung ist von Lebensbeginn an ein menschliches Grundbedürfnis, eine Grundmotivation im Leben und auch vielen Tierarten eigen.

Für ein Kind sichert eine gute Bindung zu den Eltern den nötigen Schutz, die Versorgung und die Zuwendung, die es für sein Leben braucht. Es gibt ihm darüber hinaus ein Gefühl der Zugehörigkeit zu einer größeren Gemeinschaft. Es erlebt eine Familie, ein Dorf oder eine Stadt, ein Volk, eine Religionsgemeinschaft. Auch die Zugehörigkeit zur Welt und zur Natur als Gemeinschaft der Lebewesen kann auf einer übergeordneten Ebene als gute Bindung erlebt werden. 

 

Sichere Bindungen ermöglichen eine gesunde seelische Entwicklung, von Mangel geprägte und belastete Bindungs- Erfahrungen dagegen beeinträchtigen die Entwicklung gravierend. Für ein Kind sind das vor allem der Verlust der Eltern oder naher Familienangehöriger und Verhaltensweisen der Eltern dem Kind gegenüber, die es verunsichern, vernachlässigen oder ihm seelischen und körperlichen Schaden zufügen.

 

Traumatische Erfahrungen können familiäre Beziehungen hochgradig beeinflussen. Ihre Weitergabe an die Folgegeneration erfolgt über die Bindungsbeziehung zu den Kindern. Solche transgenerationalen Traumatisierungen vermitteln sich halbbewusst oder unbewusst, sprachlich oder nonverbal.

 

2,5 Millionen Kinder hatten nach dem zweiten Weltkrieg in Deutschland nur noch einen Elternteil, 100000 wurden Vollwaisen. In der Übernahme der Verantwortung für Aufgaben, die eigentlich Erwachsene tragen, lernten die Kriegskinder früh, dass kaum jemand in der Lage war, sich ihrem Leid zuzuwenden. Alle mußten funktionieren. Das Erleben der Hilflosigkeit von

Erwachsenen ist ein bindungsbelastender Aspekt für Kriegskinder. Die instinktive Schutzsuche  bekommt keine Resonanz. Manche Kinder versuchen dann ihrerseits zu trösten und zu retten. Eigene Gefühle und Bedürfnisse werden zurückgestellt Sie werden seelisch erwachsen in einem kindlichen Dasein. Krieg fordert dies Kindern und Jugendlichen ab und schafft Bedingungen, die die natürliche Ordnung zwischen Eltern und Kindern zerstören.

 

Die Kriegskinder waren während des 2.Weltkriegs einer vielfältigen Traumatisierung ausgesetzt:

  • - sie erlebten das unmittelbare Kriegsgeschehen mit Bombardierung, Zerstörung, Verletzten und Toten
  • -  sie gerieten immer wieder in massiv Angst machende Situationen
  • -  sie erlebten Flucht, Vertreibung und Verlust ihres Zuhauses

Auf der Bindungsebene wurden sie erschüttert durch

  • -  verunsicherte, haltlose und selbst traumatisierte Familienangehörige
  • -  durch den Tod von Eltern oder anderen nahen Familienangehörigen
  • -  durch mangelnde physische Versorgung, vor allem mit Hunger in einem Lebensalter,
  • in dem Eltern für die Versorgung als zuständig erlebt werden
  • -  durch die Kenntnis nationalsozialistischer
  • Täterschaft innerhalb der eigenen Familie
  • -  durch die Kenntnis oder das Erleben
  • nationalsozialistischer Verfolgung und Vernichtung naher Familienangehöriger
  • und
  • -  durch eine seelenverleugnende Erziehungs-Haltung des Nationalsozialismus in Familien und staatlichen Erziehungsinstitutionen

Schon vor der Herrschaft des Nationalsozialismus erschwerten die preußischen Erziehungsideale eine sichere Bindung zwischen Kindern und Eltern. Als Werte galten: die Unterdrückung der emotionalen Welt und des Freiheitsstrebens, unbedingter Gehorsam, Autoritätsergebenheit. Die national -sozialistische Erziehungsdoktrin baute auf diesen Paradigmen auf und nutzte sie für die Durchsetzung ihrer Ziele. Das Kind und später der Erwachsene sollten bereit sein, sich für das deutsche Volk aufzuopfern und den Zielen der nationalsozialistischen Stabsführung zu entsprechen. Erziehung wurde politisiert, ein Organ dafür war die Hitler-Jugend. Die Verachtung für alles Schwache, das Schüren des Hasses für diejenigen, die innerhalb der vorgegebenen Maxime nicht zugehörig und damit Feinde waren, sollte Kinder für spätere Zeiten kriegstauglich machen. Adolf Hitler sagte in einer Rede 1934 vor der NS – Frauenschaft:

 

„Jedes Kind, das die Frau zur Welt bringt, ist eine Schlacht, die sie besteht für das Sein oder Nichtsein ihres Volkes“. Und bei einer Sonnenwendfeier auf der Zugspitze hieß es: “ Ich will eine Jugend, die stark ist wie ein Raubtier. Die Welt soll sich fürchten vor unserer Jugend.“

 

Nationalsozialistische Erziehungsratgeber wurden bis weit in die Nachkriegszeit hinein verlegt und hatten hohe Verkaufszahlen. Bedeutung hat vor allem das Erziehungshandbuch der Münchener Ärztin Johanna Haarer „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind.“ Auffällig daran ist

eine rigorose Abwesenheit von Mitgefühl und liebevoller Zuwendung. Dadurch gehörte der Schmerz der inneren Leere für viele Kinder und spätere Erwachsene unvermeidbar zum Leben dazu. Der Psychoanalytiker Horst Eberhard Richter nennt dies: horror vacue, Verlorenheitsangst. An viele der in den 50er und 60er Jahre – Geborenen wurde sie unverarbeitet und unreflektiert weitergegeben. Die Suche nach Erlösung aus innerer Einsamkeit, aus Schuldgefühlen und Versagen, aus dem Bemühen, liebenswert zu sein und immer alles mindestens 100% - ig gut zu machen, oder sich zur Selbstrettung komplett zu verweigern, kennen viele der heutigen Erwachsenen.

 

Die Erziehungsparadigmen auch der 50er und 60er Jahre waren von ängstigender „Erziehungsgewalt“ geprägt. Um Kinder gefügig zu machen war Gewalt in der Erziehung über Jahrhunderte legitimiert gewesen. Dies galt nicht nur für die Elternhäuser, sondern auch für die Schulen. Kinder wurden oft nicht als eigenständige Persönlichkeiten mit kindgemäßen Bedürfnissen wahrgenommen und respektiert. Der autoritäre Erziehungs - und Beziehungsstil entfremdete Kinder und Eltern voneinander.

Aber nicht nur die geistige Haltung, die Gewalt in der Beziehung zum Kind

ermöglichte und legitimierte, sondern auch die Kriegstraumatisierung mit ihren Abwehrmechanismen bedingten die Gefahr von gewalttätigen Entgleisungen, denen Kinder ausgeliefert waren.

Die alptraumhaften Folgen des Nationalsozialismus und seiner Ideologie, die auf Machtmißbrauch und Gewalt aufbaute, das von niemandem mehr zu leugnende Scheitern und die darauf folgende Humanisierung und Demokratisierung der Gesellschaft scheint einen grundlegenden Wandel im Denken ermöglicht zu haben. Verkrusteten Strukturen wurden aufgeweicht, die Beziehung zwischen Eltern und Kindern bekam neue Erfahrungsräume. Das sich rasch entwickelnde Wissen aus Psychologie und Pädagogik unterstützte maßgeblich diese gesellschaftliche Entwicklung. So wurden auch gesellschaftspolitisch Signale gesetzt:  Das Schlagen in den Schulen wurde verboten und ist heute, nur ein bis zwei Generationen später, unvorstellbar geworden. In den Familien blieb die elterliche Gewalt - man beachte die Formulierung in unserer Sprache - noch lange unangetastet. Erst im November 2000 kam es zu einer Reform des Züchtigungsrechts der Eltern. In § 1631 heißt es jetzt: “Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig“. Diese können seitdem zur Anzeige gebracht werden. Daß auch seelische Verletzungen und Entwürdigung in diesen Paragraphen aufgenommen wurden, ist für mich besonders bemerkenswert, zeigt er doch eine ganz neue Haltung der Seele des Kindes gegenüber. Das Antlitz wird eindeutig nicht mehr verweigert, die Sensibilität für die Seele des Kindes und der Menschen überhaupt ist in unserer Gesellschaft heute eindeutig vorhanden. Autoritäre Erziehungsstile werden von heutigen jungen Eltern überwiegend abgelehnt. Statt hierarchischer Machtausübung zählt emotionale Beziehung und eine Art partnerschaftliches Umgehens mit den eigenen Kindern. Selbstvertrauen und Persönlichkeits-entwicklung sind primäre Ziele in der heutigen Erziehung, nicht mehr Gehorsam und Funktionieren.

 

Dieser Bewusstseinsprozess dauert bis heute an.

In den 50er und 60er Jahren stand die Beziehung zwischen Eltern

und Kindern im Schatten des kollektiven Kriegstraumas.

Zwischen beiden Generationen liegt der Krieg als einschneidendes und die Generationen trennendes Ereignis. Es gibt die Generation mit Krieg als prägende biographische Erfahrung und es gibt die Generation ohne Krieg, Es gibt eine Generation mit z.T. psychisch notwendigen Verdrängungsmechanismen und die Generation, die verdrängte und

abgespaltene Anteile bewusst zu machen und wieder zu beleben versucht. Was jedoch wissen die beiden Generationen wirklich voneinander? Weiß

die jetzt mittlere Generation um die Kriegsbedingten Prägungen ihrer jetzt alten Eltern? Gibt es daran Interesse? Weiß die jetzt alte Generation um die Konflikte und Sehnsüchte ihrer Kinder, der Generation ohne Krieg? Kann das jeweils sehr unterschiedliche kollektive Leid gesehen und anerkannt werden? Und hat auch das jeweils kollektive Glück einen Platz –vielleicht überlebt zu haben bei der einen und von den Schrecken des voran gegangenen Krieges verschont geblieben zu sein bei der anderen Generation?

 

Was nährt wirklich? Was führt zu innerer Entspannung und Zufriedenheit, was gibt Lebenssinn? Diese Fragen zu stellen, bedeutet auch, sich seelischen Verletzungen anzunähern. Sie zu benennen, birgt Schmerz in sich, aber auch Erlösung.

 

Ein wichtiges Thema für die Nachkriegsgeneration ist transgenerational vermittelte Scham und Schuld. 

 

Ein 52-jähriger Kollege erzählt mir, wie er bei einem Friedens-Seminar in Israel bei der Vorstellungsrunde zwar sagen konnte, er sei Europäer und Hamburger - er sei Deutscher, kam ihm jedoch nicht über die Lippen.

 

Auf der Eltern- und Großelterngeneration der 50er/60er Jahre Geborenen lastete eine kollektive Schuld für die Verbrechen des Nationalsozialismus. Ein mühsames Bewusstwerden der Realität wirkten tief in die Gesellschaft hinein. Der erste Bundespräsident Theodor Heuss sagte am 7.Dezember 1949: “ Ein Schlimmes, was Hitler uns angetan hat- und er hat uns vieles angetan- ist, dass er uns in die Scham gezwungen hat, den Namen Deutsche zu tragen“. Und Heinz Galinski, ab 1949 Vorsteher der jüdischen Gemeinde und KZ-Überlebender, sagte : „Die Entscheidung, ob sich ein Jude nach allem, was geschehen ist, noch als Deutscher empfinden kann, muss jeder für sich allein treffen. Die kann ihm niemand abnehmen, das ist eine Gewissensfrage.“

Schuld und Scham für die von Deutschen in der Zeit des Nationalsozialismus begangenen Verbrechen wurden bis weit in die nächsten beiden Generationen und wohl auch darüber hinaus weitergegeben. Ein 20-jähriger erzählte mir, wie er und seine Freunde bei einem Fußballspiel von Ajax Amsterdam von holländischen Fans beschimpft wurde “Haut doch ab, ihr Nazis“. Er habe sich nicht wehren können, denn „irgendwie haben sie ja recht.“

 

Die Traumatherapeutin Gabriele Rosenthal sagt zur Familiendynamik der NS-Verbrechen:

"Kinder und Enkel in Familien von Nazi - Tätern haben oft nur vage Ahnungen. Sie zweifeln immer wieder an ihrer Wahrnehmung und fühlen sich für ihre Vermutungen schuldig. Täter schützen sich auch aggressiv vor einer Anklage ihrer Nachkommen. Sie leugnen oft ihre Vergangenheit, dies tun Überlebende von Verfolgung nicht, diese verschweigen sie. Sie wollen ihre Kinder und Enkel nicht mit ihrer Verfolgungsvergangenheit belasten.“

 

1973 wurden im deutschen Fernsehen die ersten amerikanischen Dokumentationsfilme über den Holocaust gesendet .In den Schulen wurde in dieser Zeit begonnen, im Geschichtsunterricht über den Völkermord an den Juden zu unterrichten. Dies traf mit der Jugendzeit der 50er und 60er - Jahre Geborenen zusammen. Die wenigsten fanden in ihren Eltern oder Lehrern dafür aufmerksame Gesprächspartner. Die Frage nach Täterschaft und Schuld in der eigenen Familie beschäftigt und ängstigt nicht nur die Kriegskindergeneration, sondern auch die nächste Generation.

Der 42-jährige Markus erzählt: „Ich glaube, mein Großvater war Aufseher im KZ- Buchenwald. Nur der Gedanke daran bringt mich schon in ein Gefühl von innerem Zerfall, weiter nachfragen kann ich da gar nicht. Es kostet viel Kraft, mich von meinen Wurzeln fern zu halten“

Die Kriegs - belastete Bindung zu den Eltern zu verstehen und zu bewältigen, ist für die 50er und 60er Jahre Geborenen eine wichtige Entwicklungsaufgabe. Es ist nicht einfach, die Familienvergangenheit mit ihren traumatischen Belastungen für die eigene Biographie anzunehmen. Die Lebensrealität der Gesamtfamilie wahrzunehmen, zu betrauern, wertzuschätzen in ihren Kräften und anzuerkennen ist notwendig. Darüber kann die eigene psychische Wahrheit zu ihrem Recht kommen.

 

 

Kalter Krieg

 

Für die Generation der 50er und 60er Jahre-Geborenen wie auch für ihre jetzt alten Eltern gab es zwei über Jahrzehnte wirkende Kriegsfolgen: Das Leben mit dem kalten Krieg und das Leben mit der Teilung Deutschlands. Wie sollten die seelischen Kriegswunden in diesem Klima heilen können?

Der 49-jährige Realschullehrer Friedrich erzählt dazu:

„Den Kalten Krieg habe ich als Bedrohung erlebt, ja, einfach nur ja. Es hatte etwas Unfaßbares und das war für mich ähnlich wie in meinem Gefühl zum 2. Weltkrieg. Wie konnte so etwas sein, wie war das möglich? Ich war in der Friedensbewegung aktiv und meine Eltern tolerierten das durch Nicht - Eingreifen. Dafür bin ich ihnen im Nachhinein sehr dankbar. Sie wären aber nie selbst mit demonstrieren gegangen, das machte ich wohl für sie mit. Macht und Ohnmacht - das war ein großes Thema. Wie geht Veränderung? Diese Frage hat uns in den 70er und 80er Jahren, der Zeit unserer Pubertät und des jungen Erwachsenseins, ständig bewegt.“Und es ist auch jetzt wieder eine große Frage.

 

Die Erinnerung an den verlorenen Krieg konnte durch die von den Siegermächten 1945 beschlossene Teilung Deutschlands nicht zur Ruhe kommen. Plötzlich gab es eine innerdeutsche Grenze mit einem Schießbefehl, Verminung, und einem Todesstreifen. Es gab Begriffe wie Ende der Welt und Niemandsland. Die eine Hälfte des eigenen Volkes wurde offiziell ein Feind des anderen. Wieder gab es das Thema Flucht.

 

„Ich habe die Teilung Deutschlands mitbekommen durch die Grenze zur DDR, sie war ganz in der Nähe meines Dorfes “ sagt die 50-jährige Altenpflegerin Anna „hier gab es kein Weitergehen. Für mich als Kind war es beeindruckend zu wissen: Es gibt einen zweiten deutschen Staat. Verstanden habe ich es nicht. “

 

Wie die Menschen in der damaligen DDR ihre Kriegs -traumatisierten Eltern, die Situation des Kalten Krieges und die Teilung Deutschlands erlebten, beschreibt als ein Beispiel die 1968 geborenen Krankenschwester Sabine aus Thüringen.

Psychologische Studien bezüglich der transgenerationalen Weitergabe traumatischer Erfahrungen des 2.Weltkriegs zeigen keine großen Unterschiede zwischen in der DDR und in der Bundesrepublik aufgewachsenen Menschen. Entscheidend scheinen die Art und die Schwere der Traumatisierung der Elterngeneration zu sein. Wie Belastungen jedoch verarbeitet werden und wie sie sich heute noch zeigen, ist sozialisationsbedingt verschieden. Das politische System der DDR setzte auf psychischer Ebene Lebensbedingungen fort, die Unterordnung und emotionalen Rückzug weiter notwendig machten. Zur 68 - er Befreiungsbewegung in der Bundesrepublik gab es in der DDR keine Parallele ebensowenig wie zum Aufblühen der humanistische Bewegung der 70er und 80er Jahre.

 

Sabine erzählt:

 

„Bezüglich meiner Mutter ist ihr kriegsbedingter kollektiver Hass auf die Russen von Bedeutung. Die Russen spielten bei uns in der DDR bis zur Wende 1989 eine große Rolle, sie waren das Brudervolk, das uns befreit hatte. Meine Mutter aber hatte als Kind erlebt, wie russische Besatzungssoldaten ins Haus eindrangen, sie nahmen alles mit, sogar ihre Unterwäsche, es wurde im Ort richtig geplündert .Und es wurde vergewaltigt, schließlch hatten die Deutschen in Rußland auch unglaublich gewütet.

Mein Großvater väterlicherseits kam aus dem Krieg nicht zurück, er galt als vermisst. Mein Vater ging nach der Wende auf die Suche nach ihm, irrational hoffte er vielleicht, er könne noch am Leben sein, 45 Jahre nach Kriegsende! Über das Deutsche Rote Kreuz konnte er Nachforschungen anstellen, in der DDR hatte es diese Möglichkeit fast gar nicht gegeben. Ich half ihm dabei, wir kamen dann aber nicht weiter. Für ihn und für mich war es eine aufwühlende Angelegenheit, es brachte mich ihm auch nahe.

In der Schule wurde der 2.Weltkrieg ab 1976 Thema. Es gab die ersten Filme über den Holocaust. „Die Brücke“ lief als Film in den Kinos. In der achten Klasse fuhren wir ins KZ Buchenwald, ein Pflichtgang für alle Schüler. Ich fand es nur schrecklich, niemand sprach   mit uns darüber. Damals hätte ich weder in der Schule noch zu Hause sagen können, was ich wirklich denke. Es fällt mir oft schwer, die Fehler und die Schuld der Deutschen wirklich zu realisieren. Bei Spielfilmen über diese Thematik, z.B. „Schindlers Liste*“ oder „Der Pianist*“ von Polanski, kann ich die Wahrheit kaum aushalten. Dann fühle ich mich schwer, unglaublich wütend und ohnmächtig.

Nach der Wende gab es für mich und auch für andere aus der ehemaligen DDR eine ganz neue Form der Auseinandersetzung mit der NS-Zeit. Vieles war sehr anders vermittelt worden als anscheinend hier im Westen. „Wir sind sauber und im Westen sind die Faschisten“ war eine Grundhaltung. So wurde uns eine merkwürdige Ost-West-Spaltung vermittelt. Sie suggerierte das Bild, als seien die Ostdeutschen in der Kriegsvergangenheit keine Täter gewesen, eine wunderbare Form der politisch erwünschten Vergangenheitsverleugnung.

Die Nachricht der Grenzöffnung konnte ich es erst nicht glauben, dann bekam ich heftige

Angst, es nahm mir den Boden. Plötzlich gab es kein Feindbild mehr, keine Ordnung. Ich merkte schnell, wie verschoben mein Menschenbild über die Westdeutschen war. In der ersten Zeit konnte ich z.B. im Westen nicht in ein Restaurant gehen, ich wußte nicht, wie Leute dort essen, ich fühlte mich unbeholfen in einfachen, elementaren Dingen: wie sitzen sie am Tisch, wie sind die Sitten, was soll ich anziehen - China hätte nicht fremder sein können. 40 Jahre existierte die DDR, 28 Jahre war die Grenze geschlossen, und es war eine fremde Welt geworden. Ich bin trotzdem in den Westen gegangen, u.a. um Arbeit zu finden, oft fühlte ich mich subtil unwillkommen und abgewertet. Jetzt lebe ich gerne in diesem

wiedervereinigten Deutschland, immer noch im Westteil. Aus dem ganzen habe ich etwas Wichtiges gelernt: Nie wieder werde ich einer Ideologie trauen, das ist sicher.“

 

Zum Abschluss einige zusammenfassende Gedanken: 

Eine Aufgabe der 50er und 60er Jahre-Geborenen liegt in der bewussten Anerkennung der Auswirkungen transgenerational weitergegebener Kriegserfahrungen. Als die Generation kennzeichnende, damit in Zusammenhang stehende psychische Themen zeigen sich häufig:

 

  • Der Verlust des emotionalen Zugangs zu den familiären Wurzeln mit zuweilen Angst vor der familiären Vergangenheit
  • Subtil wirkende kollektive Schuldgefühle, Deutscher/Deutsche zu sein
  • Eine manchmal vorhandene spannungsreiche Gleichzeitigkeit von Täterschaft in der einen elterlichen Linie und Verfolgung in der anderen
  • Familiendynamische Aufträge, seelische Verletzungen der Elterngeneration zu heilen
  • Kontaktverlust zu sich selbst, unsicheres Selbstwertgefühl, innere Einsamkeit verborgene posttraumatische Dynamiken: resultierend aus der häufig vorkommenden seelischen und körperlichen Gewalt in elterlicher und schulischer Erziehung der 50er und 60er Jahre
  • Verinnerlichte „Normalität“ seelischer Härte im Umgang mit sich selbst und anderen, Funktionieren müssen
  • Geängstigt sein in Bindungen
  • Sehnsucht nach einer Beziehungsfähigkeit, die sowohl Gemeinsamkeit als auch Verschiedenheit zulässt, Nähe ebenso wie Distanzierung erlaubt
  • ein großes Bemühen um seelische Befreiung, um Identität, um Lebenszugewandte Werte
  • ein großes Bemühen, den eigenen Kindern einen sichereren Bindungsraum
  • anzubieten, ohne ausreichend verinnerlichte gute Erfahrungen und Vorbilder zur Verfügung zu haben

Für psychotherapeutische ebenso wie für persönliche Prozesse können Wege sein:

  • -sich für die Familiengeschichte interessieren und sie insbesondere in ihrer seelischen Dimension erfassen
  • -die Verstörung der Elterngeneration in ihren verschiedenen Ausdrucksformen biographisch und im Kontext der speziellen deutschen Geschichte einordnen, sie annehmen, ohne sie heilen zu müssen. 
  • nach Wegen stimmiger emotionaler Zuwendung und Versorgung für die heute alten Eltern suchen.
  • Die Folgen und Spuren der seelischen Kriegs- und NS-Paradigmen bewußt in sich und anderen wahrnehmen lernen, ihre Transformation fortsetzen
  • Heilungsräume für den eigenen und den kollektiven seelischen Mangel gestalten
  • Die auch emotionale Leistung der Eltern- und Großelterngeneration, ein in Trümmern liegendes Land wieder aufzubauen und eine leistungsstarke Wirtschaft zum Leben zu bringen, anerkennen
  • Der psychische Leistung der Folgegeneration, dem seelischen Leben weiter zu seinem Recht zu verhelfen, die seelischen Trümmer zu heilen, Wertschätzung geben
  • und
  • in den Dialog bezüglich der angesprochenen Themen mit der Elterngeneration und der eigenen Generation gehen
  • in den Dialog mit der jungen Generation gehen, eine von ethischen Werten getragene seelische und geistige Haltung vermitteln und die Erinnerungsketten bewahren helfen 

 

Copyright:

Bettina Alberti

Meesenring 2

23566 Lübeck 

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